Dicke Luft in der Fleischindustrie, Dr. Nicole Raiss

Die Fachpresse und die Fleischindustrie sind auf der Suche nach einem Sündenbock für hohe Infektionszahlen in den Verarbeitungsbetrieben. Wurde jener nun endlich gefunden?

 

Nach Covid-19 Ausbrüchen in mehreren fleischverarbeitenden Betrieben verzeichnete die Firma Tönnies im Juni 2020 einen immense Infektionswelle mit mehr als 1500 positiv getesteten Beschäftigten. Tönnies ist Deutschlands größter Schlachtbetrieb für Schweine. Es gibt verschiedene Theorien, warum ausgerechnet in einem solchen Betrieb trotz deutschlandweit sinkender Ansteckungszahlen ein massiver Covid-19 Ausbruch zu verzeichnen ist.

 

Der Mediziner und Hygieniker Prof. Martin Exner sieht die Lüftungsanlage, welche in den meisten fleischverarbeitenden Betrieben im Umluftbetrieb läuft, als einen möglichen, bisher vernachlässigten Grund für die Verbreitung von Covid-19 unter den Angestellten.

 

Eine Lüftungsanlage, die im Umluftbetrieb gefahren wird. Was bedeutet das? Vorab, eine Lüftungsanlage teilweise im Umluftbetrieb zu fahren, ist nichts Außergewöhnliches und soll helfen Ressourcen einzusparen. Jedoch gibt es, insbesondere in hygienisch sensiblen Bereichen, so einiges für einen sicheren Betrieb zu beachten.

 

In Fleischverarbeitungsbetrieben wird ein kaltes und trockenes Klima angestrebt, damit sich schädliche Bakterien, wie Salmonellen, nicht vermehren und des Deutschen liebstes Mahl nicht allzu schnell verdirbt. Frische, neu aufbereitete Luft von draußen ist teuer, denn diese Luft muss neu getrocknet und gekühlt werden. Also scheint es naheliegend, wenig neue Luft und viel der „alten“ schon gekühlten Luft zu verwenden und wieder den Betriebsräumen zuzuführen. Der Preiskampf am Fleischmarkt ist jedem bekannt und macht womöglich auch bei der Lüftung nicht halt.

Der Bakterien Leid ist der Viren Freud. Corona-Viren scheinen bei kühleren Temperaturen und trockener Luft länger ansteckend zu bleiben. Dies fanden Wang und Kollegen in einer chinesischen Studie heraus (Wang, J. et al. SSRN. 09.03.2020)

 

 

Was bedeutet dies für die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Fleischindustrie? Trockene Luft macht Atemwege anfälliger für Infektionen. Ein gefundenes Fressen für den hochansteckenden SARS-CoV-2. Dazu kommen schwere körperliche Arbeitsbedingungen und reduzierte Frischluft. Arbeit kann krank machen- trifft dies auch bei Tönnies zu?

 

 

Wenn die Fleischindustrie im Arbeitsschutzgesetz verankerte Anforderungen an ihre Lüftungsanlage einhielte, sollte ein kontrollierter Umluftbetrieb der Lüftungsanlage eigentlich kein Problem sein. So liegt der Fokus der Lüftung nicht nur darauf Fleisch, vor dem Verderb schützen, sondern auch darauf den Angestellten „gesundheitlich zuträgliche Atemluft“ (ASR, 3.6) zukommen zu lassen.

Entsprechend dem Robert-Koch-Institut (RKI) ist der Hauptübertragungsweg des neuartigen Corona-Virus die Aufnahme über die Atemwege. Krankmachende Viren, wie  SARS-CoV-2, „kleben“ meist an kleinsten Wassertröpfchen in der Luft. Das sind die sogenannten Aerosole. Diese Aerosole werden gewöhnlich in großen Mengen von der vorgeschriebenen Filterung einer Lüftungsanlage abgefangen. Zusätzlich kondensiert Luftfeuchte bei einer fortwährenden Kühlung und Trocknung der Luft immer wieder. Dies ist das gleiche Prinzip wie bei einer feuchten Wiese am Sommermorgen: Die warme Luft kühlt in der Nacht ab und kann weniger Wasser aufnehmen, das überflüssige Wasser wird am Grashalm hängen bleiben. Gleiches passiert in der Lüftungsanlage. Dieses Kondensat wird gewöhnlich kontrolliert abgeführt und mit diesem eine große Anzahl möglicher Viren.

Doch ist es in der Tat nicht unmöglich, dass ein Teil der SARS CoV-2 Viren durch die Lüftungsanlage bei Tönnies wieder der Betriebshalle zugeführt wurden. Eine förmliche Anhäufung, wie in den Medien beschrieben, wäre jedoch bei einer Einhaltung der Vorgaben nicht möglich.

Ein vorschriftsmäßiger Betrieb von Lüftungsanlagen nach der Hygienerichtlinie VDI 6022 garantiert, dass Viren nicht über Lüftungsanlagen verbreitet werden. Dazu gehört aber auch, dass bei besonders belasteter Luft im Innenraum ein großer Anteil, wenn nicht ausschließlich frische Luft von außen zugeführt wird. Darauf verwies der Verein Deutscher Ingenieure nochmals in seiner im März erschienen Publikation „Raumlufttechnische Anlagen in Corona-Zeiten“ (www.vdi.de, 20.03.2020).

 

Eine ordnungsmäß betriebene Lüftungsanlage kann also nicht zum Sündenbock gemacht werden. Es sei denn, in der Fleischindustrie wurde an diesem Punkt mehr gespart als gesund gewesen wäre. Steht uns der erste große Rechtsstreit der Raumluftversorgung bevor? Es wird spannend.

 

Aber vielleicht sollten wir uns auch an der eigenen Nase packen: so mancher gibt hunderte Euro für den Markengrill aus und gart darauf die Steaks und Würstchen aus dem Sonderangebot. Es ist Zeit für ein Umdenken: bei uns und bei der Fleischindustrie.

 

Dr. Nicole Raiss leitete mehrere Jahre ein mikrobiologisches Prüflabor für Raumlufthygiene in Berlin, ist VDI-anerkannte Referentin für die Raumlufthygienerichtlinie VDI 6022 und brachte in Zusammenarbeit mit der Deutschen Normen Akademie den erste Online-Schulung der VDI 6022 auf den Markt (www.deutsche-normen-akademie.com).

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